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für Familien mit verhaltensauffälligen Kindern
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Verhaltenstraining
Dr. Johannes Streif

 

 

 

 




 

 

 

Es fällt mir nicht leicht, Ihre Fragen zu beantworten. Können Sie sich vorstellen, wie viele Fragen ich in den letzten Monaten und Jahren beantwortet habe? Von der Erziehungsberatung angefangen, Ärzte, Psychologen, Ämter, bis zu Scheidungsanwalt und Gericht! Ich bin müde geworden, das überrascht sie nicht. Dabei habe ich mit meinen Fragen begonnen und auf diese Antworten gesucht. Sie hatten alle keinen Bestand, sind ihrerseits hinterfragt worden auf der Suche nach irgendwelchen Gründen und Ursachen. Was ich getan habe, bereue ich nicht, denn die Fragen wären irgendwann gestellt worden. Von Niklas, von Martin, von mir selbst. Und mit der Schule und der Situation zuhause waren wir doch zu einem Endpunkt gekommen.

 

 

Vielleicht hätte ich mich von meinem Mann nicht trennen sollen, das war der Anfang vom Ende der Familie. Nach außen hin hat die Scheidung viel schlimmer gewirkt als auf uns. Wir sind doch so glücklich, so vorbildlich gewesen! Vorbildlich?! Das Wort hat einen schlechten Beigeschmack. Ich war doch die ganze Zeit allein! Wer blieb mir denn zur Orientierung? Diese ganze Bürgerlichkeit ist ein positiver Selbstvollzug. Man kann nicht nicht dabei sein. Wenn man nicht in der Gesellschaft ist, ist man nicht. Ich will gar nicht leugnen, dass mir das Leben Spaß gemacht hat, dass ich die Parties und Konzerte und Veranstaltungen und unsere gemeinsamen Freunde und Bekannten sehr schätzte. Eigentlich noch schätze, denn ich habe ja noch viele Kontakte. Und meinen Mann sehe ich durch die ganze Elternarbeit des Heimes fast öfter als früher. Zumindest hat er ein schlechtes Gewissen und bemüht sich um Niklas.

 

Ich arbeite, das ist vielleicht der größte Fortschritt überhaupt. Ich hatte viel Spaß am Studium. Aber nach den Prüfungen und der zeitgleichen Schwangerschaft mit Martin war ich über die reine Mutterrolle nicht unglücklich. Es bestand ja auch keine Notwendigkeit, zu arbeiten. Die Eltern meines Mannes sind immer sehr großzügig gewesen, auf eine nette Weise, nicht aufdringlich. Vielleicht ist ihr Einfluss auf unsere Familie deshalb so groß geworden, weil wir es zunächst gar nicht beachtet hatten. Mein Mann sollte ja von allem Anfang an in die Kanzlei seines Vaters eintreten, und er ist auch ein guter Anwalt und zufrieden in seinem Beruf. Wahrscheinlich wäre diese Abhängigkeit nie ein Problem geworden, hätte Niklas nicht unsere Aufmerksamkeit auf sich gezogen. Zumindest meine Aufmerksamkeit, mit der ich dann alleine dastand. Die Souveränität meiner Schwiegereltern ist nicht zu bestreiten. Sie haben alles bis zuletzt ganz unverkrampft gesehen. Und sie waren schließlich am stärksten gegen die Scheidung.

Eine Mutter, die in ihrem Kinde den
Sinn ihres eigenen Lebens finden will,
ein Vater, der in seinem Sohne nur
seine Fortsetzung, seine Erweiterung sieht,
Eltern, die in dem Kinde die Bestätigung
ihrer eigenen Größe suchen
(den ewig dankbaren Lobpreiser und Sklaven),
Erzieher, für die Zöglinge nichts anderes
als ein Material sind, sozusagen Ton
in des Töpfers Hand,
Erzieher, die jede Niederlage in ihrem
Erwachsenenleben an den Kindern rächen
- sie alle sind, ob sie es nun wissen oder nicht,
Verderber einer Generation,
die ebenso schlechte Erzieher
hervorbringen muss,
wie sie es selbst sind.

Manès Sperber
Individuum und Gesellschaft (1934)
dtv (1987) S.320

 

 

Meine Eltern sind eher zurückhaltend. Ein bisschen nervös vielleicht, wie ich. Sie waren damals sehr für die Ehe gewesen, aber sie verbanden mit ihr keine großen Pläne. Sie suchten immer einen Kompromiss zwischen Sicherheit und Bescheidenheit. Ein bisschen noch die armen Kriegskinder: Nur keinen großen Hunger haben, sonst wird man vielleicht nicht satt! Die Eltern meines Mannes sind gut durch die Kriege gekommen, nicht reich, aber ohne Not. Ich weiß nicht, ob das heute wirklich noch etwas ausmacht, aber seine Familie pflegte die großen Entwürfe, die Spekulationen, die verzehrende Liebe, das Aufgehen in der Arbeit. Niklas hat die Leidenschaft seines Vaters, aber meine Angst. Vielleicht ist das sein Unglück.

 

Im Heim haben sie ziemlich zu kämpfen mit ihm. Dort dreht er fast noch mehr auf wie zuhause. Am Anfang war mir das peinlich, wenn die Erzieher von seinen Ausbrüchen berichteten. Mittlerweile denke ich, dass es so sein muss, dass Niklas ja nicht dort wäre, wenn er normal wäre. Es tut mir fast gut, dass er sich nicht verändert hat. Es bestätigt mich in meinem Entschluss. Schlimmer darf es allerdings nicht werden! Was für eine Zukunft steht ihm so wohl bevor? Aber ich muss wenigstens nicht mehr alles erklären. Er spricht für sich, in seiner Sprache. Ich habe ihn nie wirklich verstanden, aber die dort sind ja alle Profis. Wissen Sie, all die Vokabeln, mit denen die Fachleute ihre Arbeit machen, die Theorien, Konzepte, wissenschaftlichen Legitimationen. In meinem Beruf gibt es auch eine Fachsprache, aber wir sprechen von Substanzen und chemischen Zusammenhängen. Die professionellen Erzieher, der Heimpsychologe, die sprechen doch von Menschen, die sprechen von meinem Kind.

 

 

Ich will nicht, dass mein Kind funktioniert! Ich will Niklas nicht isolieren, aber warum sollte ich wollen, dass er ein Leben wie meines führt? Das Erschreckendste ist für mich rückblickend, dass bei mir immer alles so reibungslos ging. Natürlich hatte ich auch Schwierigkeiten mit meinen Eltern oder auch mal mit der Schule. Aber nie wie Niklas. Meine Eltern zeigten immer ein ängstlich-liebevolles Verständnis. Ich konnte ihnen nicht entkommen. Ich habe sie nie so ausgeschlossen wie Niklas mich. Ich konnte ihnen keine Niederlage bereiten. Niklas dagegen ist meine Niederlage, er ist das Hindernis, das irgendwann kommen musste. In meinem tiefsten Innern habe ich auf ihn gewartet. Über alle Zeit und alle Gefühle hinweg ist das Leben doch gerecht. Es war wie ein schlechtes Gewissen für mein ganzes Glück. Jetzt hat mich meine Schuld eingeholt.

 

 

Diese Experten sagen, ich dürfte mir das nicht einreden. Mein Mann sagt es, selbst Martin sieht es so. Er tröstet mich, wenn ich mich nach Niklas sehne, - manchmal ist mir das fast unheimlich, er ist doch auch noch ein Kind, und ich weiß auch, dass es nicht in Ordnung ist. Ich sehe ja ein, dass ich für Niklas Temperament und seine ganze Konstitution nichts kann. Aber das Heim, die Scheidung, dass es soweit kommen musste? Alles könnte noch so sehr Schicksal sein oder nach einem Unfall aussehen: man fragt sich dennoch, wo man in den entscheidenden Stunden war; ob man nicht doch eine Chance verpasst hat; ob die Entscheidungen nicht doch übereilt waren und man sich selbst in eine ausweglose Situation gebracht hat. Wenn die ganze elende Lage auch nicht meine Schuld ist: Ich habe uns allen den Stempel aufgedrückt: mir, meinem Mann, meinen Kindern, - vor allen Niklas. Das wissen zu müssen, tut sehr weh.

 

 

 

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